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Beziehungen neu sichtbar machen: Indigenes Wissen im Zentrum der Transformation der Schweiz



Wie können wir die Beziehungen zwischen Mensch und Natur neu denken, ohne koloniale Muster zu wiederholen? Das FIRI-Projekt brachte Expert*innen für indigene Naturschutz, Schweizer Naturschützer*innen und Wissenschaftler*innen zusammen, um gemeinsam transformative Ansätze zu entwickeln, die auf ganzheitlichen Weltanschauungen basieren – westliche Annahmen in Frage stellen und Veränderungen neu denken.


Expert*innen weltweit sind sich einig, dass die globalen Krisen des Biodiversitätsverlusts, des Klimawandels und der sozialen Ungleichheiten einen transformativen Wandel erfordern. Transformativer Wandel bezeichnet hier die Umgestaltung und Neuorganisation eines breiten Spektrums von Systemen und Strukturen – von Technologie und Wirtschaft bis hin zu Sozial- und Wertesystemen. Um einen solchen Wandel zu erreichen, profitieren relevante Initiativen von transdisziplinären Kooperationen, die die Perspektiven verschiedener Akteure, Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus akademischen und nicht-akademischen Bereichen einbeziehen. Durch die Einbeziehung mehrerer Expert*innen und Meinungen sind die Ergebnisse wahrscheinlich gerechter und können das Risiko der Bevorzugung einer bestimmten Gruppe mindern. Einige Ansätze des transformativen Wandels erreichen dies durch die Einbeziehung indigener Perspektiven, die sich auf ein ganzheitliches Verständnis bestimmter Beziehungen konzentrieren, die in westlichen Weltanschauungen tendenziell als gegensätzlich wahrgenommen werden, wie beispielsweise Mensch-Natur. Dies ist besonders relevant, da viele Transformationsansätze Versuche beinhalten, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur neu zu definieren. Diese Perspektive baut jedoch auf einer westlichen Sichtweise auf, die den Menschen vom Rest der Natur trennt. Dadurch besteht die Gefahr, die kolonial geprägte Denkweise zu verstärken, die zum heutigen Zustand der Mensch-Natur-Beziehungen beigetragen hat. Die Einbeziehung indigenen Wissens soll zwar alternative Wege des Verständnisses und der Wertschätzung dieser Beziehungen aufzeigen, birgt aber zahlreiche Risiken. Zu den Risiken gehört die Reproduktion kolonialer Machthierarchien, in denen indigenes Wissen zwar oberflächlich extrahiert oder einbezogen, aber nicht als gleichwertig oder gültig wie andere Wissenssysteme angesehen wird.


Das FIRI-Projekt interpretiert diesen Transformationsansatz neu, indem es indigenes Wissen in den Mittelpunkt stellt und die Einbindung indigener Völker in Schweizer Praktiken ermöglicht. Im Einklang mit ganzheitlichen Weltanschauungen versteht es das aktuelle Problem der Mensch-Natur-Beziehungen als Ergebnis eines Prozesses der Unsichtbarkeit und nicht der Trennung. Ziel ist es, den kolonialen Fluss von Wissen und Macht umzukehren und ein anderes Denken über die Mensch-Natur-Beziehungen in einem westlichen Kontext mit einer umstrittenen kolonialen Vergangenheit – der Schweiz – zu ermöglichen.


Das FIRI-Projekt besteht aus einem Team von Experten für indigene Bewirtschaftung, Schweizer Naturschutzexpert*innen und Wissenschaftler*innen der Universität Zürich. Das Projekt basiert auf einem kooperativen Ansatz für transformative Veränderungen, der durch das komplementäre Wissen und die Erfahrungen aller Gruppenmitglieder ermöglicht wird. Die Organisation wurde so geplant, dass indigenes Wissen im Mittelpunkt des Projekts steht.


Das Projekt basierte auf zwei Workshops im Mai und Oktober 2024. Zusätzliche virtuelle und persönliche Treffen fanden vor und nach den beiden Workshops statt. Insgesamt gliederte sich das Projekt in drei Phasen nach Lang et al. (2012):


Phase A: Problemformulierung und Teambildung

Diese erste Phase umfasste die Vorstellung der verschiedenen Teammitglieder und ihrer Perspektiven sowie ein interkulturelles und dekoloniales Training. Später, im ersten Workshop, wurden in dieser Problemformulierungsphase auch die Problemidentifikation und ein erstes Brainstorming zu Protokollen, Praktiken und Methoden (PPMs) zur „Neusichtbarmachung“ der Mensch-Natur-Beziehungen durchgeführt.


Zur Vorbereitung des ersten Workshops im Mai 2024 fanden eine Reihe von Zoom-Meetings mit allen Projektbeteiligten sowie zwei persönliche dekoloniale Diskussionen mit den in Zürich (und Bern) ansässigen Teammitgliedern statt. Die Organisation der Zoom-Meetings erforderte Kompromisse von allen Beteiligten, da wir uns über mehrere Zeitzonen erstreckten. Wir versuchten, einen Termin zu finden, der mit den Terminen der indigenen Fellows an der US-Westküste und des restlichen Teams in der Schweiz vereinbar war. Diese Treffen boten den Projektbeteiligten die Möglichkeit, sich kennenzulernen und den Teambildungsprozess anzukurbeln. Der erste Workshop beinhaltete zudem eine Reihe von Methoden zur Schaffung einer gemeinsamen Teamidentität.


Phase B: Gemeinsame Entwicklung von lösungsorientiertem Transferwissen

In der zweiten Phase, die im ersten Workshop angestoßen und im zweiten Workshop wiederholt wurde, standen lösungsorientierte Methoden im Mittelpunkt. Eine Reihe von Treffen außerhalb der Workshop-Tage trugen zusätzlich zum gemeinsamen Wissenserwerb bei. Das wichtigste Ergebnis war eine Liste gemeinsam entwickelter PPMs, die zunächst im ersten Workshop gemeinsam erstellt und später im zweiten Workshop und in den Folgetreffen angepasst und ergänzt wurden. Basierend auf der Expertise der Schweizer Naturschutzfachleute und ihrem wahrgenommenen Bedarf an alternativen Ansätzen wählte das Team zwei Fallstudien: Mensch-Wolf-Interaktionen und Wildnispädagogik in der Schweiz. Diese Fallstudien boten einen konkreten Kontext für die Entwicklung unserer (verallgemeinerten) PPMs und dienten später als „Prototyp“ für deren Anwendung und Operationalisierung.


Phase C: Analyse und (Re-)Integration und Anwendung des geschaffenen Wissens

Die Analyse und Anpassung der Ergebnisse und der Wahrnehmungen der Teammitglieder standen während des gesamten Projekts im Mittelpunkt. So wurden beispielsweise die Ergebnisse des ersten Workshops, die anhand von Daten aus Fragebögen, täglichen Reflexionen, Abschlussgesprächen und während des Projektverlaufs gemachten Notizen analysiert wurden, diskutiert und in die Planung des zweiten Workshops einbezogen. Zusätzlich wurden die PPMs am letzten Workshop-Tag im Rahmen einer Community-Outreach-Veranstaltung in Zürich und auf der Internationalen Transdisziplinaritätskonferenz (ITD) im November 2024 in Utrecht, Niederlande, vorgestellt. Bei beiden Gelegenheiten wurden weitere Teilnehmende in das Projekt und die PPMs eingeführt und ermutigt, deren Anwendung in ihren Fachgebieten zu erproben.

 
 
 

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Kontakt

Dr. Sierra Deutsch

Geographies of Socio-Ecologies and Just Transformations (EcoJuST)

Space, Nature and Society

Universität Zürich
Geographisches Institut

Winterthurerstrasse 190
CH-8057 Zürich, Schweiz

© 2024 von Rethinking Human-Natures.

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